das erste jahr

das erste jahr berlin ist rum und weil mich immer alle fragen, wie es so ist, schreib ich das jetzt mal auf. ich fang mal an mit dem wedding und der wohnung.

die wohnungssuche hat 2 wochen gedauert. weil ich auch nicht vorhatte, das viel länger auszudehnen, haben wir kompromisse gemacht.
erster kompromiss: die wohnung ist so dunkel, dass man in der küche immer das licht anmachen muss, zu jeder tageszeit, auch im hochsommer, mittags um 12. wenn man wissen will wie das wetter ist muss man das haus verlassen oder im internet nachkucken.
zweitens: die wohnung liegt nicht in prenzlberg, kreuzberg oder mitte sondern im wedding. und das auch nicht im bereits gut durchgentrifizierten sprengelkiez oder irgendwie dicht genug dran an mitte oder prenzlberg, dass die hippster es noch akzeptabel finden (ein kollege wollte sich neulich ernsthaft lieber in mitte treffen, den wedding möge er nicht so).
nee, wir sind schon im tiefsten wedding, genauer: im afrikanischen viertel, dem ich persönlich noch 10 jahre gebe, bis die ersten cafés kommen, wo man soya-latte kaufen kann. wobei es hier beileibe nicht unattraktiv ist. ich finde unsere strasse sogar sehr hübsch. schöne jugendstil-altbauten, alte bäume davor, kopfsteinpflaster und kaum verkehr.
und, ihr angeber aus mitte & co, nehmt das:
WIR haben parkplätze!

aber wieder zu den kompromissen: die wohnung hat keine badewanne. im winter vermisse ich sie besonders, weil ich im winter gerne bade. baden funktioniert auch ziemlich zuverlässig wenn ich mir was ausdenken muss. unter der dusche fällt mir leider nichts ein.

der letzte nachteil, den ich aber nicht als kompromiss verbuchen würde, weil wir das vorher nicht wussten, ist der hang unserer nachbarn zum nikotin. zum alkohol zwar auch aber davon bekommen wir nicht viel mit, bis auf den nächtlichen lärm wenn die nachbarn ihre flaschen in die altglastonne unter unterm schlafzimmerfenster werfen. das nikotin ist schlimmer. wer morgens im dunkeln in unseren flur oder in das kinderzimmer kommt meint für einen moment ernsthaft, in einer kneipe zu stehen. der rauch kommt durch die wände, die leider ziemlich dünn sind – wir wissen das so genau weil der nachbar mal versucht hat, seinen flachbildfernseher aufzuhängen und dabei ein guckloch hinterliess, exakt so tief wie ein 8er fischerdübel.

blöderweise bringt es auch nix wenn man dann morgens, um den sohn aus seinem nikotinseeligen schlaf zu reissen, die balkontür vom kinderzimmer aufreisst, denn auch die leute auf der strasse rauchen. zumindest die, die schräg unter uns vor der spielhalle sitzen. dagegen ist der duft der mülltonnen, der im hochsommer aus dem hinterhof zu uns ins wohnzimmer zieht, ein wohlgeruch.

unsere mülltonnen

das waren also die kompromisse. jetzt zu den vorteilen. die wohnung ist 50% grösser als unsere alte wohnung in hamburg, nämlich knapp 90 quadratmeter, und kostet doch weniger. sie ist mindestens genauso hübsch, mit alten dielenböden und stuckverzierungen an der decke und die decken sind so hoch dass die möbel plötzlich viel kleiner aussehen.
die wohnung ist saniert, d.h. es gibt jede menge steckdosen, die kabel liegen unter putz, die fenster sind neu und türen und fensterrahmen sind frisch lackiert – alles sachen die wir in hamburg nicht hatten.
das haus ist gedämmt, die heizkosten sind im vergleich zur alten wohnung ein witz. inklusive kostet sie 630,-. wer aus hamburg kommt findet sowas billig.

nächster vorteil: wer im wedding lebt kann keine nahrungsmittelunterversorgung beklagen. es gibt supermärkte, türkische gemüsemärkte und dönerbuden wohin das auge reicht. während wir früher mit der s-bahn zum einkaufen fuhren erreichen wir jetzt alles zu fuss. man muss nichtmal aufs rad steigen, aldi, edeka, kaufland, real, penny, lidl sind alle im umkreis von 250 metern.
es gibt 2 wochenmärkte, einen öko- und einen, wie ich ihn nenne, türkenmarkt. beide sind zweimal die woche.
den türkenmarkt hinterm weddinger rathaus finde ich ganz grossartig. riesengross und erinnert ein bischen an den fischmarkt: je später man kommt desto lauter das geschrei und desto doller das gedrängel.
insgesamt ist das angebot aber orientalischer als der fischmarkt. im augenblick ist zb. gerade granatapfel-und kaki-saison. guten deutschen boskop gibt es auf dem markt keinen.
es gibt dafür einen fleischstand, der aussieht als hätte man eine LKW ladung fleisch von oben reinfallen lassen, einen stand der ausschliesslich kräuter, datteln und okkraschoten verkauft, einen nur mit lokum („turkish delight“) und oliven in kilosäcken und einen wo man frisch gebackene gözleme bekommt. es gibt einen maiskolben-stand, einen honig-stand und einen mit gefühlten hundert verschiedenen sorten kartoffeln. dazwischen jede menge stände mit stoff-ballen und kopftüchern.
und preise gibt es, von denen man in hamburg nichtmal zu träumen wagt.
ich liebe diesen markt, wir gehen jeden samstag hin und rollen einen vollen trolley nach hause.

türkenmarkt in der genter strasse im winter

apropos trolley: im wedding hat jeder einen. in manchen supermärkten gibt es dafür sogar eine extra garderobe wo man ne nummer bekommt.

weil wir den ganzen krempel jetzt direkt vor der haustür kaufen können und nicht mehr quer durch die stadt fahren müssen, so wie in hamburg neustadt, wo es keine gemüsetürken, keinen asia-supermarkt und keinen bioladen gibt, werden die rezepte die wir kochen immer seltsamer. die merkwürdigsten lebensmittel werden angeschleppt, nach denen ich schon das eine oder andere mal lange googeln musste (gekrümmte gelbe schrumpelige gurken?)
in hamburg hätte ich südfrüchte ausserdem niemals auf dem markt gekauft, weil sie mir dort einfach zu teuer waren. ich hab sie im netz bei aldi gekauft wo mandarinen in 9 von 10 fällen gammelig schmecken, melonen unreif oder überreif sind und tomaten nur noch wie tomaten aussehen.
hier ist obst auf dem markt nicht nur billiger als der vertrocknete plastikfrass ausm discounter, man kann es obendrein auch noch alles probieren.

kisten hinterm bolu in der müllerstrasse

der wedding mag verdreckt sein und in den augen von berlin-mitte-mögern uncool aber es lebt sich hier gut. wir haben plötzlich mehr geld zur verfügung und ich kann besser einschlafen.
es gibt im wedding zwar immer noch mehr spielhallen als schöne cafés oder restaurants, aber hier und da gibt es schon ein paar oasen.
im spätsommer sass ich zum beispiel mit meiner nachbarin gabi schaffner draussen vor einer bar gegenüber von der nazarethkirche, wir tranken portugisischen rosé in der abendsonne, und kamen uns vor wie auf nem spanischen dorfplatz in der nebensaison. als es spät wurde und die tische reingestellt werden sollten schlug der kellner vor, wir könnten ja im park gegenüber weitermachen, dort gebe es bänke, die gläser könnten wir mitnehmen.

spielhallen im wedding

seitdem wir im wedding leben esse ich mehr, scheiss auf meine schlanke line und auch sonst auf so einiges. ich hab aufgehört mir die haare zu färben, schmink mich nur noch in notfällen, geh aber dafür – nur dass sich das jetzt so anhört als würde ich komplett verwahrlosen – joggen. das mach ich aber nicht um schlanker zu werden, sondern das hat auch wieder mit dem wedding zutun: wenn man unsere strasse runterläuft kommt man in die rehberge, ein traumhaft schöner park, sozusagen der berliner jenischpark. nur doppelt so gross und mitten in der stadt. und für den wedding fast zu schön.

plötzensee im februar

nur an die kampfhunde muss ich mich noch gewöhnen und aufhören, beim laufen zu versuchen, die hundekacke rechtzeitig zu sehen.